Stadtchronik sehen, fühlen und begreifen
„Auf Fingerkuppen durch die Straßen spazieren. Die Anordnung der Plätze und Gassen ertasten. Die Größenunterschiede zwischen Häusern und Kirchen erkennen. Architektur und Stadtgeschichte erfahren. Wenn blinde Mitbürger zum ersten Mal ihre Stadt befühlen, deren Mauern sie zwar berühren, deren Dimensionen sie aber nie begreifen konnten, so ist es für sie eine ganz neue Erfahrung.“ – so heißt es auf der Internetseite des Künstlers Egbert Broerken. Diese Erfahrungen kann man nun auch in Thüringens „Steinerner Chronik“ machen.
Fast vier Jahre sind von der Idee bis zur Umsetzung vergangen. Nicht alles lief reibungslos. Entscheidend für alle war jedoch das Ergebnis: Saalfeld bekommt sein Stadtmodell aus Bronze. Die Idee dazu schlug 2012 Saalfelds damaliger Vizebürgermeister Wolfgang Dütthorn (CDU) seinerzeit dem Lions-Club Saalfeld vor. Verschiedene Standorte wurden diskutiert u. a. vor dem Rathaus, am Markt als Eingang in die Fußgängerzone und der Fischmarkt. Letztlich, auch auf Bestreben des ehemaligen Sparkassenchefs Alfred Weber, fiel die Entscheidung zu Gunsten des Fischmarktes auf einen Platz unweit der Wetterstation.
Mit einer Größe von etwa 170 x 160 cm und einem Gewicht von 160 kg zeigt das Blinden-Stadtmodell Saalfelds historisches Stadtzentrum. Die Plastik des Nordrhein-Westfälischen Bildhauers Broerken zeigt neben der Innenstadt zwischen den Stadttoren auch die Bereiche um das Residenzschloss, den Meininger Hof und die Saale mit Saalebrücke sowie – auf besonderen Wunsch von Bürgermeister Matthias Graul – das Areal „Grüne Mitte“.
Die Besonderheit der bronzenen Stadtsilhouette ist ihre Funktion als Tastmodell für Blinde. Straßenamen, Sponsorenliste und Stadtchronik sind daher auch in Blindenschrift (Braille) angebracht worden. Sehbehinderte können dadurch ihre Stadt ertasten, erfahren und begreifen – im wahrsten Sinne des Wortes. „Tasten ist hier kein Notbehelf und hat eher eine eigene Erkenntnisqualität. Insofern ist das Stadtmodell nicht nur ein künstlerischer, sondern auch ein menschlicher Beitrag zur Integration behinderter Mitbürger“, sagt Mitinitiator Michael Bönig.
Das Modell wurde zunächst aus Wachs hergestellt, später – infolge der außergewöhnlichen Größe – in zwei Teilen gegossen und schließlich zusammengeschweißt. Es ruht auf einem drei Tonnen schweren Sockel. Nachts wird es analog der historischen Gebäude angestrahlt. Zudem wird das Stadtmodell Teil der elektronischen Stadtführung. Mittels QR-Code können so Informationen zur Entstehung des Modells gehört werden.
„Die Stadtskulptur ermöglicht allerdings nicht nur blinden Menschen dreidimensionale architektonische, geschichtliche oder touristische Erkenntnisse. Vielmehr wird die Miniatur-Stadtansicht bei allen Bürgern auf eine gute Resonanz stoßen. Der ungewöhnliche Blickwinkel erschließt die baulichen Strukturen einfacher und zeigt eine ganz neue Perspektive Saalfelds auf. Ein Gewinn für Saalfeld als Steinerne Chronik Thüringens“, bedeutet Saalfelds Marketingleiter Christopher Mielke.
Stifter des Stadtmodells
- Auto-Müller GmbH & Co. KG
- Kreissparkasse Saalfeld-Rudolstadt
- Stiftung der Kreissparkasse Saalfeld-Rudolstadt
- Thüringen-Kliniken „Georgius Agricola“ GmbH
- Malerfachbetrieb Weedermann GmbH
- Familie Michael Bönig
- Familie Uwe Brandhorst
- Ute und Wolfgang Dütthorn
- Monika und Reiner Gehlhaar
- Familie Ullrich Gölitzer
- Familie Dr. Wieland Häßler
- Dr. Herry Helfritzsch
- Familie Maik Kowalleck
- Wolf-Dieter Patzer
- Familie Bernd Schneider
- Thomas Wächter
Zum Künstler
Der Bildhauer Egbert Broerken lebt und arbeitet in einem kleinen Renaissance- Wasserschloss in der Nähe von Soest in Westfalen. Nach dem Abitur und einer Schriftsetzerlehre studierte er an der Fachhochschule Münster Design. Von Anfang an faszinierte ihn der Werkstoff Metall, die Arbeit mit dem Material, das Verfahren, das Handwerk. Der Bildhauer, dessen freie Arbeiten - Großplastiken für den öffentlichen Raum aus Stahl und Stein - zum Beispiel in Dortmund stehen, begann vor über 20 Jahren mit der Fertigung bronzener Blinden-Stadtmodelle, angeregt durch die Rotary Clubs von Münster. Mit Schülern und Lehrern der Westfälischen Blindenschule in Soest entwickelte er die optimale Tastbarkeit der Modelle und mit der Bronzegießerei ein spezielles Verfahren für die filigranen Erläuterungen in Blindenschrift. Die Stadtmodelle erstehen im Wachsausschmelz- Verfahren, einer alten handwerklichen Kunst, die Detailtreue und Unverwüstlichkeit der bronzenen Reliefs garantiert.
Später gab Egbert Broerken seine Lehrtätigkeit an der Fachhochschule für Design in Dortmund auf, um sich ganz der Kunst und Fertigung von Blinden-Stadtmodellen zu widmen, inzwischen zusammen mit seinem Sohn Felix der nach seinem Studium in Münster glücklicherweise in die Fußstapfen seines Vaters getreten ist. Jedes Mal sind die Bildhauer aufs Neue begeistert, wenn sie die urbanen Kerne von alten Städten darstellen dürfen, nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Nachbarländern und sogar im außereuropäischen Ausland. Über einhundert Stadtskulpturen sind inzwischen im Atelier der beiden Künstler entstanden. Überall werden die Stadtmodelle von Felix und Egbert Broerken als große Bereicherung angesehen und sind beliebter Ausgangspunkt für Stadtführungen.
Quelle: http://www.blinden-stadtmodelle.de/kuenstler
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